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Sterbeevent (JS)
Von Helmut Englisch
Über alle Grenzen schwappte die Sucht, sich bedingungslos dem Trug der Sinne hinzugeben, dem Schein zu applaudieren und der Würze des Seins zu frönen. Die Welle der Events rollte ungefragt über uns hinweg und keiner konnte sich dem süßen Verlangen entziehen, einfach dabei zu sein. Teil eines Ganzen zu sein und nicht als Ausgeschlossener leben. Man konnte es schon lange nicht mehr ausmachen, wo sie her kamen, diese Sucht und dieses Verlangen. Im Trubel der Zeit tanzten wir wohl alle auf den spitzen Wellen, ohne je an den Untergang zu denken. Die Übersättigung kannte keine Grenzen und der Drang nach immer mehr Nervenkitzel fand kein Ende.
So kam es, dass bald der Erfindungsgeist ausuferte und Eintrag um Eintrag das Guinessbuch der Euphorie überfütterte. Es war daher nur folgerichtig und keinesfalls verwunderlich, daß der junge Lebenskünstler Alexander Tott auf die Idee kam, sogenannte „Sterbeevents" zu veranstalten.
Zunächst schüttelte die Welt nur den Kopf, rümpfte die Nase und begnügte sich damit, schiefe und abwertende Blicke hinter ihm her zu schicken.
Aber er ließ sich nicht beirren. Er glaubte an seine Idee. Es war ihm egal, dass die ewig Gestrigen Misstrauen schürten, weil offensichtlich keiner sich so recht vorstellen konnte, was in seinem Gehirn so vor sich ging.
Er wusste, dass seine Hartnäckigkeit und sein Durchsetzungsvermögen ihn zum Erfolg führen würden.
Infolge dessen hat sich in kürzester Zeit ein gut gehender Sterbemarkt entwickelt. Den Leuten sitzt das Geld im Angesicht des Todes locker. Der Arbeitsmarkt , der am Boden lag, erholte sich rasch. Der Einzelhandel blühte auf und besonders gut gehen Masken und originelle Kleider, Engelskostüme und Teufelshörner. Auch die Musikindustrie stelle sich auf die neuen Gegebenheiten ein und die Halleluja-
Alles Abartige und Perverse ist gefragt. Es gibt keine glaubhaften Tabus mehr.
Nach Mitteilung der Marketingfirma von Tott, kann sich fast jeder ein derartiges Event leisten, weil es im wesentlichen von Eintrittsgeldern getragen wird. Der Veranstalter übernimmt sogar die Beerdigungskosten und überreicht am Ende der Veranstaltung interessierten Besuchern eine CD mit den Höhepunkten des Geschehens, sowie einen Gutschein, der eine Preisermäßigung für das nächste Event verspricht.
Eine gerne gesehene Erinnerung, die Kindern und Enkeln oder sonstigen Interessierten und Anverwandten, die an der Zeremonie nicht teilnehmen konnten bestens empfohlen werden kann.
Zusammenfassend kann man sagen, dass das ganze nicht gerade billig ist. Aber es handelt sich um ein unglaublich unter die Haut gehende Veranstaltung, deren Besuch bestens empfohlen werden kann. Sogar die Kirchen haben nach zähen Verhandlungen über verschiedene Urheberrechte ihren Segen dazu gegeben und das will bei dieser altmodischen und verkrusteten Struktur schon etwas heißen.
Der Veranstalter verspricht, dass es nie langweilig wird, weil jedes Event von seiner individuellen Prägung lebt. Das kann ich voll und ganz bestätigen.
Ein ungekürzter Bericht unseres Korrespondenten „Jeremias Salser“
von Helmut Englisch
Der taufeuchte Morgennebel hing wie eine Dunstglocke in der Luft. Die Lungen der Stadt atmeten zwar noch die morgendliche Ruhe, aber dennoch kam es einem so vor, als ob sich der Tag bereits mächtig ins Zeug legte, um immer anstrengender und hektischer zu werden.
Die Passanten, die sich wie richtungslose Marionetten bewegten, wurden mehr getrieben, als dass sie selbst ihr Tun bestimmten. Die Nacht steckte ihnen noch in den Knochen und sie waren offensichtlich noch zu müde, um diesen Zustand wahr zu nehmen. Wie im Halbschlaf durchquerten sie Raum und Zeit und waren nur allzu gerne bereit, alle Signale zu ignorieren, die es wohl Wert gewesen wären, sie zur Kenntnis zu nehmen und die abgestumpfte Ruhe mit einem gewissen Zweifel und Misstrauen auszustatten.
Doch nichts dergleichen geschah. Der Tag drängte sich ohne Gnade auf. Als Beobachter drängte sich einem das Gefühl auf, als ob man keine Wahl hätte, zwischen Tun und Lassen, zwischen Gut und Böse, zwischen Liebe und Hass, zwischen Anfang und Ende.
Es war, als ob der Tag ein böses Spiel trieb und man dies einfach akzeptieren musste.
Die aufgehende Sonne, die unbedarft ihre ersten wärmenden Strahlen verschickte, malte bizarre Schatten zwischen die grau und düster wirkenden Häuserreihen. Das Feld war längst bestellt. Der Keimling lag in der Erde. Doch es gab niemenden der den Gedanken schwängern wollte, dass man nun an einem Punkt angekommen sei, der einen Rückzug nicht mehr zu ließ. Die Zeit hatte es vollbracht, was dies auch immer bedeuten sollte.
Es war einer dieser Tage, an denen Unsicherheit und Ungewissheit in der Luft lagen. An denen man sich sicher war, dass etwas passieren würde, obwohl man es nur als Bauchgefühl festmachen konnte. Man empfand es als Nachteil, dass man nicht aktiver Spieler war sondern der der Sitzuation einfach ausgeliefert schien. So versuchte man, sich aus allem heraus zu halten und man verfluchte es tausendmal, das Bett überhaupt verlassen zu haben.
Während diese Ungewissheit noch an den unschuldig wirkenden Gedanken nagte, bereitete sich die Situation darauf vor, unwiderruflich aus dem Ruder zu laufen. usw..............................................................................................
Tumbuktus Praktikus
Die Stürme der Fantasie
von Helmut Englisch
Tumbuktus Praktikus räkelte sich zufrieden auf seiner Hängematte. Er war der Überzeugung, dass sein Leben nur eine einzige Aufgabe für ihn bereit halte. Und er ließ sich nicht davon abbringen, dass diese Aufgabe einzig und allein darin bestand, in den Tag zu leben und sich dem Wohlergehen seiner Sinne zu widmen. Im Grunde genommen, war er ein in die Jahre gekommener Aussteiger und Fantast, der sich nie, zumindest nicht, ohne vehement dagegen Einspruch zu erheben, die Schuhe eines Pragmatikers hätte anziehen lassen.
Die Regeln der Normalität, wenn es die für ihn überhaupt gab, interessierten ihn nicht. Er wusste diese Bequemlichkeit zu schätzen und hielt sich fernab von den Versuchungen einer Zeit, die sich immer häufiger anschickte, seine unbeschwerte Lebensweise in Zweifel zu ziehen, indem sie ihm Vorschriften machte und ihm Vorgaben auftischte, wie er sich zu verhalten habe.
Es missfiel ihm, dass man so auf jedmögliche Art und Weise Einfluss auf sein Verhalten nahm, dass man dicke Bücher mit Regeln füllte und darauf bestand, dass man sich gefälligst auch daran zu halten habe. Er beobachtete dies alles mit Sorge. Es kam ihm eínmal mehr vor, dass man ihm unzählige Knüppel zwischen die Beine warf, was seiner Vorstellung von einem sinnlichen und fantasiereichen Leben gar nicht zu Gute kam.
Im Grunde genommen war, er ein in die Jahre gekommener Mensch, der sich nun gar nicht darauf einstellen wollte, irgendwelchen wahnwitzigen Empfehlungen zu folgen. Er war sich sicher, dass dies seiner Lebensphilosophie nur schaden würde. Am Ende würde ihn dies alles nur aus dem Gleichgewicht bringen und er war sich sicher, dass dafür auch keiner die Verantwortung übernehmen wollte.
Weil die Tage aber ihren eigenen Weg einschlugen und das Leben seine Entscheidungen traf, ohne tatsächlich auf ihn und seine Belange Rücksicht zu nehmen, wurde das ganze ein Spiel mit unbekanntem Einsatz. Und es war allen Beteiligten klar, dass der Ausgang ebenfalls ungewiss war.
So kam es immer öfter vor, dass er, wenn er sich denn heraus wagte aus dem Schneckenhaus, das er freiwillig bezogen hatte, die Fühler einzog und ............................. ...................................................................
Parvenu -
Kokon in vier Wänden
Die Einsamkeit, ist schon eine seltsame Pflanze, die sich offensichtlich beständig wie Unkraut ausbreitet und selbst das rigorose Ausreissen der Wurzeln kann nicht verhindern, dass sie das Leben überwuchert und ihre Umgebung beständig und konsequent in Besitz nimmt. Das kahl und trostlos wirkende Zimmer, in dem Parvenu die meiste Zeit verbrachte, das war so ein Ort. Die Monotonie beherrschte den Tag. Dieses klettenartige Gewächs, das sich anscheinend bevorzugt an trostlosen Orten einnistete, überwucherte sein ganzes Leben. Es hatte sich einfach unbemerkt eingeschlichen. Und obwohl es ihm die Luft zum atmen nahm und seine schlingenartigen Saugnäpfe seinen Lebensnerv umklammerten, wurden sie zum Bestandteil seines Seins, das sich wohl oder übel zähneknirschend mit der Beständigkeit dieses Zustandes abgefunden hatte.
So kam es, dass Parvenu in einer Stille erstarrte und einerseits vom Leben nichts mehr erwartete andererseits aber darauf hoffte, dass etwas unerwartetes einträfe, das ihn aus dieser Situation befreie. Er klopfte sich also den Staub von den Füßen, zog die Falten seiner Gedanken glatt und wartete gespannt darauf, was der Tag ihm neues zu bieten hatte. Einzig und allein diese Neugier war es, die ihm das Leben noch lebenswert erscheinen ließ.
Er spürte förmlich, dass ein noch verschlafen wirkender Morgen vorwitzig durch die vom Schmutz verschleierten Fenster blickte. „Nur keine unliebsamen Überraschungen“ dachte er. Aber der Morgen war ein unbeschriebenes Blatt, das in der unschuldigen Geburt eines Paukenschlages dem Erwachen bedingungslos entgegen fieberte.
Parvenu war fasziniert und misstrauisch zugleich. Aber das Maß hatte längst den Deckel auf die Fülle gelegt und er zügelte vorsichtshalber seine Erwartungen um nicht zu tief in den Keller der Enttäuschungen zu fallen.
Zu abrupt schien ihm dieser Übergang aus Halbschlaf und Erwachen in die plötzliche Fülle des Seins. Und er war sich immer noch nicht sicher, ob er sich bedingungslos und ohne Schaden zu nehmen, der Fülle dieser Eindrücke hingeben sollte oder, ob er sich nicht sinnvoller sei, sich lieber die Decke über den Kopf zu ziehen, die Augen zu schließen, um seiner seelischen Unbedarftheit doch noch eine Chance einzuräumen.
Andererseits, die Entscheidung war längst gefallen. Auf jeden Fall war es ihm nicht mehr möglich, das Geschehene rückgängig zu machen und sich aus eigener Kraft, diesem Schauspiel dieses erwachenden Trubels zu entziehen. Und so saugte er förmlich die Partikel morgendlicher Lust in sich ein, als gelte es Vorräte für spätere Tage anzulegen und er ließ sich anstecken von diesem Überschwang an Gefühlen, die in ungeahnter Fülle auf ihn einströmten und darauf warteten, in ihm ihre Wirkung auszuleben.
Es war daher nicht verwunderlich, dass sein Herz im wild aufgeregten Takt pochte, weil die Fülle das Maß übertraf und die Sinne sich am Wunsch orientierten und die Fesseln eines einsamen Lebens versuchten, den faden Geschmack der Enge abzustreifen, um sich einmal voll und ganz und unvoreingenommen dem sinnverzaubernden Augenblick hinzugeben. Und wenn ihn nicht, in einem schwachem Moment, die Realität zurückgeholt hätte, so schwebte er immer noch in den Sphären der Gutgläubigkeit und blickte verzaubert und sinnverloren in einen Horizont, der sich aufgemacht hatte, seine Anfälligkeit für die zauberhaften Spiele euphorischer Melancholie auszunutzen.
So aber, gewann das Sein an Boden, das Glück wurde auf sein Budget zurückgestutzt und Parvenu trat, gezwungenermassen, auf die Bremse und ruderte, wenn auch nur zögerlich, zurück.
Eisblumen
Im Winter, wenn die Eisblumen duften, dürsten die Schreie nach der Quelle. Der Tau verlangt nach immer mehr und die Ferne spiegelt sich im Gesicht der Zweifler, die unentwegt den Einsatz erhöhen und mit dem Zecher unter dem Tisch um Gnade winseln.
Auf den Gräbern wachsen die besten Früchte, denke ich. So probt die Einsamkeit den Stillstand, ohne mich bewusst zu beteiligen. Der Tag zieht eintönig seine Furchen und längst sieht es so aus, als ob die Worte einfach nach Erlösung fiebern. Sie würgen an ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit und die widerwärtige Schleimspur stiller Ergebenheit treibt kräftige Wurzeln zur Moschusblüte, die einen erbärmlichen Geruch verbreitet, den niemand wahrnehmen will.
Der Kahn setzt über, denke ich. Die Wasser sprechen nicht über ihre Tiefe und die Worte schüfen nur noch an der Oberfläche. Ich ziehe mich zurück, entfliehe den tobenden Wellen und hoffe, dass sich doch noch alles zum Guten wenden wird. Sicher bin ich mir nicht. Von Fall zu Fal suche ich verzweifelt nach Halt. Meine Hände sind längst blutig, von den unnützen Taten. Und der Geist ist längst nicht mehr willig, sich jedweder Gefahr auszusetzen. Er erniedrigt sich zum Nichts, redet von Untergang und Aufgabe. Mehr Licht, denke ich. Ich glaube, bereits den Horizont zu erkennen. An ihm klammere ich mich fest, ohne an das Ufer aus den Augen zu verlieren.
Wenn ich nur wüsste, warum der Kahn nur so lange zum Brunnen geht, bis er bricht.
Meine Augen ruhen rastlos in der Tiefe des Meeres. Mein Blick bohrt sich in den Grund, ohne etwas zu erkennen.
Wenn ich ehrlich bin, warte ich auf eine Antwort, ohne die Frage zu kennen. Offensichtlich scheiden sich die Wasser zur Quelle und ich bin dabei mich aufzulösen, unterzugehen im Wirbel reissender Ströme. Längst bin ich auf der Flucht. Nur weg! Alles hinter sich lassen. Den Fragen keine Antworten mehr hinzufügen!
Ohne dass ich es ahne, scheint mir, als ob die Flucht die beste Lösung sei. Wenn ich auf der Flucht bin, geht es mir gut. Noch nie habe ich so gelacht. Alles, alles hinter sich lassen. Ich lache selten. Aber wenn ich lache, dann biegen sich die Balken. Selbst die Feuer treiben dann ihr schändliches Spiel und tänzeln in lustigen Farben, ohne Rücksicht auf irgend einen Geschmack zu nehmen.
Wenn ich mich recht erinnere, hat es mir noch nie gefallen, alleine zu lachen. Selbst, wenn sie mich auslachten, lachte ich mit, um nicht den Anschein zu erwecken, dass ich nicht einverstanden sei. Ich musste mir den Bauch halten, vor Lachen. Und je mehr ich lachte, um so mehr lachten auch sie. Meine Existenz schrammte von Kante zu Kante, von Bruch zu Bruch und von Auflösung zu Auflösung.
Selbst in dieser Situation lachte ich, ohne Grund und ohne Verstand.
Offensichtlich hänge ich am Tropf der Verzweiflung. Immer wieder strömen die Gedanken durch mein löchriges Gehirn und lachen mit mir. Meist gebären sie später in qualvollen Zügen lustlos das Schweigen.
Im Winter, wenn die Eisblumen duften, dürsten die Schreie nach der Quelle.
Die Schreie leben von der Not
Auf auf die Fragen stehen Kopf und die Türme entledigen sich ihrer Last und stürzen, ohne jemand zu fragen, ein. Die Schreie leben längst alleine von der Not und wenn es dunkel wird, löschen die verwelkten Triebe das klumpige Salz in den Fässern. Die Weite schnürt mit ihren verdorrten Fingern silberne Kränze, die sie dann andächtig zu Wasser lässt, ohne an das Ende zu denken. Erwartungsvoll winkt sie mir zu. „Lass mich ich Ruhe“, denke ich und beiße auf meine Lippen, damit das Schweigen sich nicht erschreckt. Ich schweige, weil ich es so gelernt habe. Bis dann plötzlich die Aufregung in mir hoch steigt, ein inneres Zittern, ein Verlangen nach mehr und Unersättlichkeit. Das Land schweigt und die Sinne lassen sich verführen. Unerträglich ist sie, diese Stille und ich schreie „Land unter“! Schreie so laut, dass die armen Seelen sich erschrecken. Sie glotzen mich mit glühenden Augen an und ich schaue regungslos in die Runde.
Ich kann nicht weglaufen. Meine Hände hängen lastig an mir herunter, so als ob sie sich jeden Moment in den Boden eingraben wollten. Der Zorn zerfurcht meine braun gebrannte Stirne und ich halte einen Moment inne, weil ich es müssig finde, mir weiter den Kopf zu zerbrechen . Kurz darauf lache ich über meine zu kurzen Füße. Was soll ich auch anderes machen? Die Zeit frisst mir nicht mehr aus der Hand.
So lasse ich meine Blicke schweifen, bis sich der Weg öffnet und das Ziel sich öffnet ohne je etwas von sich preis zu gegen. Ich lebe mit meinen Zweifeln, die sich permanent um Nähe bemühen. Längst habe ich mir mir angewöhnt, immer nur kleine Schritte zu machen. Alle Wege sind gangbar, denke ich wenn sie nur nicht so steinig wären und mir das Blut in den Beinen abschnüren. Ich bin mir sicher, die Frucht sättigte sich schon immer am Samen. Geanu so ist es mit den Wassern, die in den Bächen rauschen und sich unkontrolliert kopfüber ins Tal stürzen. Sie haben noch nie etwas vom Erfolg des Schweigens gehalten. Sie flüstern und gurgeln, bäumen sich auf, stemmen sich allen Hindernissen entgegen. Und meine Gedanken erschaudern, zittern wie Espenlaub. Erstarren vor dem Blick in die Ferne. Träume sind nur Schäume. Letztendlich ersticken sie an der Anhänglichkeit meiner Angst. Es ist mir egal, wer die Früchte erntet. Der Samen ist gesäht und die Sprösslinge scheuen sich sowieso vor dem Licht. Meine Gefühle hängen mit heruntergelassenen Scheuklappen an den vertrockneten Bäumen der Spätgeburt. Es gibt keine Früchte, die das Leben lieben, während sie sich übermütig und kopflastig am Erfolg sättigen. Jeglicher Inhalt fault in intakter Hülle und stinkt erbärmlich zum Himmel. Ich rieche nichts. Der Gestank der Gosse kriecht in meine Kleider, dringt aber längst nicht mehr bis zu mir durch.
Die Nadeln hirnloser Energie stecken in meinem Körper, ohne den Impuls auszulösen, den ich zum Leben brauche. Die Narben, tief eingeschnitten in das zarte Fleisch der Vergebung, übertönen dabei jeden Schmerz.
Ich entfliehe all den Ereignissen und versuche, mich auf mein Gehör zu konzentrieren. Das Schweigen, das die Zeit überbrückt, erfüllt alle Voraussetzungen. Ich klammere mich an das Ziel, ohne die Sicht auf das Ende aus den Augen zu verlieren. Der Weg ist das Ziel. Manchmal höre ich das wispern der Sterne, das sich wie ein weicher Flaum auf die Schatten der Bäume legt um dann mit der Sonne schlafen zu gehen.
Dennoch, ich bin mir sicher, dass das Gras die Narben sättigt und die Feuer glühen, als gelte es, die Hitze zu bändigen und die Stille lautlos zu durchbrechen. Noch nie habe ich diese Wärme wirklich gespürt. Ich hasse die Feuer. Das sinnkliche prasseln der Glut.Immer haben sie mich weggestoßen. So kam die Kühle in meine müden Glieder. Und wenn die Schatten sich dann ausbreiteten, sich endlos vermehrten und die Stürme wahllos ihre Kreise zogen, dann glaubte ich, dass ich nie zu Hause ankommen werde.
Manchmal pocht die Gewalt in meinen Adern, dann leben die Schreie von ihrer Not. Mit letzter Kraft stemme ich mich dagegen. Versuche zwanghaft, mein Ziel zu erreichen, ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Ich laufe, ohne voran zu kommen. Die Zeit zerrinnt zwischen meinen Fingern und die Stunden nehmen sich rücksichtslos ihren Anteil.
Ich finde diese Schreie unerträglich. Sie zerfressen meine Ohren; pochen pausenlos in meinem Gehirn. Ich werde wahnsinnig. Dabei bin ich mir sicher, dass ich noch nie schreien konnte. Es war selbstverständlicjh für mich, für alles dankbar zu sein. Sich immer zurücknehmen, nur nicht auffallen!
So fütterte ich mein Schweigen nicht nur mit Abfällen. Es entstand eine untrennbare Freundschaft. Eine Symbiose von Geben und Nehmen. Seit langem gehören wir untrennbar zusammen. Kräftig und satt ist es geworden, seit ich mich um es kümmere. Ich denke, mein Schweigen ist mit mir zufrieden. Wir beide kommen gut miteinander aus. Manchmal plagt mich die aberwitzige Vorstellung, dass es mir ohne dieses Schweigen besser ginge. Wenn ich dann in seine glühenden Augen schaue, fällt es mir leicht, an alten Gewohnheiten festzuhalten. Es hat ein gemütliches Plätzchen bei mir und ich will ich es auch nicht vertreiben.
Ein Lied für Rosie
Das Stimmengewirr der Strasse erhebt sich zu endlosem Schweigen. Die Tage, die nichts mehr gutes versprechen, verfüttern ihre Nachgeburt an die streunenden Hunde. Das Leben pulsiert, ohne seine Umgebung wahrzunehmen. Die Schreie verstecken sich in den Kleiderkammern des Vergessens und das Mitgefühl hat sich längst in aller Hektik aufgerieben.
In dieser Situation saß Rosie Bertram fast schon eine halbe Stunde an der Ecke Brinkmann-
Längst hätte sie in ein Krankenhaus gehört, in die sichere Obhut eines Hospizes. Ihre Lungen quietschten. Ihr Herz stolperte, erholte sich, fiel dann wieder ins Uferlose, stolperte erneut um sich dann langsam wieder und wieder zu erholen um danach, in gewohntem Rhythmus -
Manchmal, wenn ihre Schmerzen wie in einem Rammstoß über sie kamen, sackte sie in sich zusammen, gab sich auf. Für einen Augenblick spürte sie die Nähe der Zeit und die Schreie des Nichts stülpten sich über ihre Ohren. Ihr wurde alles zu viel. Sie wollte nicht mehr weiterleben, schloss hingebungsvoll ihre Augen und entfloh, für einen, wie gestohlen wirkenden, Moment, den einengenden und schmerzhaften Schicksalsschlägen der Realität.
Wenn dann aber nach einer kurzen Erholungsphase ein neuer Schmerzstoß ihren Körper erschütterte, nahm sie alle Kräfte zusammen, biss auf die Zähne, krallte sich an das kleine Stück Hoffnung, das sie immer noch hegte und es erwachte ihre alte Kämpfernatur. So bäumte sie sich auf, gegen die Welt und den Schmerz und ihr Verlangen, sich dem Sterben zu öffnen. Nur kurz waren diese Phasen, die an ihren Kräften zehrten und die weiter nichts bewirkten, als dass der willenlose Fall ins Nichts immer tiefer wurde. Je öfter dies geschah, wurde ihr unwiderruflich bewusst, dass sie verlieren würde.
Die Leute, die jeden Morgen hier vorbeiströmten, erfassten die alte Frau, wenn überhaupt, nur als Schatten. Keiner kümmerte sich um dieses menschliche Elend und um diesen Abfall einer vergessenen Seele. Keiner hatte Lust auch nur einen Blick an diese schrullig wirkende Kreatur von Abschaum zu verschwenden. Selbst die Kinder, die ansonsten in ihrer unschuldigen Neugier ihre Gefühle auslebten, kannten kein Mitleid mit diesem menschlichen Haufen von Angst, von Schmutz und von Unglück. Es kam eher Unmut auf. Dieses Bild kratzte an der heilen Welt. Es zerstörte die Sphären einer auf Spaß ausgerichteten Gesellschaft. Armut und Elend und Krankheit gehörten nicht öffentlich zur Schau gestellt. Sie ordneten das Alter und die Hässlichkeit der Frau dem menschlichen Müll zu, den es in unseren Kulturkreisen zu entsorgen oder zumindest hinter dem Haus zu verstecken galt.
Rosie war hilflos. Aus ihrer Perspektive blickte sie immer nur auf Füße. Die monotonen Bewegungen des Aufstampfens, des Schlurfens, des Gleitens, des Eilens verwirrten sie. Sie wusste, sie würde nie mehr Schritt halten können. Nie mehr würde sie zu denen gehören, die oben stehen, zu denen die eilen, zu denen die ihren Kopf nach oben tragen und ihre Ellbogen nutzen. Und je länger sie hier saß, desto bewusster wurde ihr, dass sie die Position des Außenseiters nie mehr verlassen würde.
Das ewige Einerlei und die monotonen Stimmen wirkten einschläfernd auf sie. Und manchmal, wenn sie ihren Blick von den verwirrenden Bildern vor sich, fort -
“ Nur nicht sterben! Nur nicht hier in der Gosse sterben!“ hämmerte es in ihrem Gehirn. Und je öfter sie diesem Gedanken nachhing, um so größer wurde die Angst, diesem Ghetto nicht mehr entfliehen zu können und die von den Versprechungen des Todes durchtränkten Gedanken kerbten sich unauslöschlich in ihren Gehirnwindungen ein. Nur nicht in dieser elenden Gosse enden, dachte sie wieder. Und jeder harte Schritt auf dem Pflaster hämmerte wie ein Meißel in den Asphalt "nur hier nicht sterben" Und je mehr sie sich dieser Angst hingab, verschwammen die Wahrnehmungen der Realität und sie versank immer tiefer in eine Art Dämmerzustand, der ihr ein Stück Erleichterung brachte.
Je länger sie in diesem Zustand verweilte, um so mehr entfernte sie sich jedoch von dem Hier und dem Heute und den Schreien und der Angst. Man konnte sogar ein leichtes Lächeln wahrnehmen, das dann über ihr Gesicht huschte und der Schmerz und das Leid holten sie in dieser Situation für eine Zeit lang nicht mehr ein. Dann träumte sie sich ein in das sonnendurchflutetes Feld von Glück und versank in den glanzlos geputzten Spiegeln ihrer Kindheit.
Ja, in ihrer Kindheit, da war alles anders. Da war sie das verträumte Nesthäkchen ihres Vaters, der, da das Leben ihm immer wieder Fallen stellte, selbst nicht zurecht kam und oft zur Flasche griff. In diesem angetrunkenen Zustand war er unausstehlich und sie bezog oft Prügel, tatsächlich und verbal. Ihre kindliche Naivität, die sich in ihrer Ausweglosigkeit krümmte, die von den Stürmen gepeitscht und der Angst durchnässt, sich allen Verletzungen stellte, versetzte sie in einen melancholisch traurigen Schockzustand. Sie wusste nicht mehr, was mit ihr geschah. Sie war nicht in der Lage zu reagieren oder sich zu wehren. Ihre Wut, die in ihr kochte, die ihr befahl, alles zu zerstören, die ihre Hoffnung schürte, groß und stark und mächtig zu werden, um der Welt heimzuzahlen, was es heimzuzahlen galt, besänftigte sie mit ihren Tränen. Sie war das Lamm, das es zu schlachten galt. Und so kam es, dass sie alle Wut und allen Hass gegen sich selbst richtete. So kam es, dass sie ihr Selbstwertgefühl verlor und die Melancholie sich fest in ihren Gedanken einnistete und ihr ständiger Begleiter wurde.
Zu sehr war sie abhängig von der Zuneigung ihres Vaters, von seiner Hilfe von seinem Mitgefühl. Und so sehr sie diese Hilfe und Zuneigung gebraucht hätte; so sehr sie sich danach auch sehnte, sie war trotz all ihrer Verletzlichkeiten nicht dazu bereit, sie zu erbetteln.
Und dennoch, trotz all ihrer Angst und ihrer Schwäche, trotz all ihrer Wut, war sie es, die ihm Hilfe anbot. Sie war es, die versuchte, ihn zu trösten, obwohl er sie wegstieß und in seiner Erbärmlichkeit niemals in Erwägung zog, sie in seinen Arm zu nehmen, der niemals bereit war, ihren Kopf zu streicheln und der niemals ihre Wunden kühlte und Trost zusprach.
Und so lernte sie mit der Zeit, ihren Schmerz und ihren Kummer zu verdrängen, ihre Angst zu verstecken und die Schläge wortlos zu verschlucken. Und ihre Erinnerung rankte sich um die Luftschlösser. Um die schönen Stunden, die es leider nur zu selten gab. Die Stunden des Nüchternseins. In denen er besonders lieb zu ihr war, so als wollte er alles ungeschehen machen, was in den Auswüchsen des zügellosen Saufens vorher passiert war. So saßen sie abends vor dem Wohnwagen, eingehüllt in die Vertraulichkeit des Dunkelseins und zählten die Sterne, blickten still hinauf in die warme Klarheit des Mondes und sie hielt sich an seiner klobig und rau wirkenden Hand fest und saugte all die überschüssige Wärme auf, gab sich ganz dem unersättlichen Gefühl von Liebe und Geborgenheit hin. So viel davon nehmen wie nur geht, dachte sie. Aufbewahren für die Tage danach, dachte sie. Vorrat anschaffen, dachte sie.
Sie sprachen nicht viel miteinander. Es hätte viel zu sagen gegeben, doch beide hatten sie Angst, die Stimmung zu zerstören und so schwiegen sie. Sie träumten von einer anderen Welt, einem anderen Leben, einer anderen Zeit und jeder von Ihnen wäre am liebsten nie zurückgekehrt in die Fangarme der Realität, die hart und unerbittlich das Leben aussortierte und ihre Opfer forderte. In dieser für beide himmlisch wirkenden Begegnung mit der Zeit, mit dem Gefühl und der Nähe, nannte ihr Vater sie liebevoll Träumchen.
Als sie älter war und ihr Vater verstarb und sie alleine zurückließ, musste sie auf eigenen Füssen stehen. Die Realität und der Kampf ums Überleben hatte sie voll vereinnahmt, voll im Griff. Ihr fehlte die Zeit zum Träumen. Nicht einmal die Zeit, einfach ihren Erinnerungen nachzuhängen, brachte sie auf. Sie führte einen Marktstand und verkaufte frisches Gemüse und Kräuter. Der Umgang mit dem Marktpublikum fiel ihr nicht leicht. Sie war zwar gerne unter Menschen, aber ihre Erfahrungen, die sie als Kind gemacht hatte, verfolgten sie. Sie spürte wohl und das allzu genau und allzu heftig, dass man hinter ihrem Rücken über sie lachte. Die abschätzenden Blicke ihrer Kunden, die ihren Körper blitzartig durchzuckten, schmerzten wie Messerstiche. Wie gerne hätte sie sich dann versteckt, wäre davongelaufen oder im Erdboden versunken. Mit der Zeit hatte sie sich einen schützenden Panzer angelegt. Sie lernte, mit diesen Gefühlen umzugehen. Ja, es war fast eine Herausforderung für sie, den von Vaters Schlägen und Misshandlungen vernarbten Körper am Markttag zur Schau zu stellen.
Und ab und zu in ihren depressiven Phasen, wenn ihr Gefühl ihr sagte, dass alles keinen Sinn mehr habe, flüsterten die harten Schritte der Marktbesucher auf dem kalten Asphalt: "Es muss weitergehen, es muss weitergehen!” Und ihre Kraft schien dann über sie hinaus zu wachsen. Sie verließ ihre gebückte Körperhaltung, richtete sich auf, nahm fast eine Pose von Stolz und Zuversicht ein und ihr Gesicht überzog sich mit einem Lächeln, das von Sicherheit, ja Überlegenheit gezeichnet schien und sie spürte plötzlich wieder Boden unter den Füßen. Sie hatte sich wieder im Griff, fest im Griff; obwohl sie wusste, dass es das für sie nicht gab. Und wenn die anderen Marktstände keinen Zulauf hatten, bei ihr standen sie und wenn auch nur, um sie anzustarren und ihren Spötteleien zuzuhören.
Als ihr aber die Supermärkte das Brot wegnahmen und ihre Kassen kaum noch klingelten, verbiss sie sich in den Gedanken, dass ihr bitter Unrecht geschähe, dass die Agendas nicht für sie ausgerufen wurden, die Sozialen Hängematten in den Ecken der Ignoranz vergammelten und die Politik sich einen Spaß daraus machte, den Verlierern eigenhändig die Schlinge um den Hals zu legen. Ihre Witze wurden bissiger. Die Welt, die ihr bisher das Leben schon nicht leicht gemacht hatte, warf ihr noch mehr Knüppel zwischen die Beine.
So viel sie sich auch wehrte, sie fühlte, dass ihr der Halt unter den Füßen wegglitt. Sie war im Fallen begriffen, ohne irgendwo anzukommen. Von nun an lebte sie zwischen Traum und Realität, wobei ihr der Dämmerzustand näher war als das reale Leben.
Ihre Kunden merkten den Verfall. Vielleicht früher als sie selbst. Sie waren jedoch nicht bereit, weiter darüber nachzudenken. Ihr Mitleid hielt sich allemal in Grenzen. Sollten sie jetzt noch Verantwortung für andere übernehmen? Aber irgendwo im Innersten, verschüttet hinter Kälte, Gefühllosigkeit und Eigennutz, züngelte eine kleine Flamme, ein Flämmchen, das das schlechte Gewissen anstachelte. Und so kam es, dass sie ihr ab und zu das eine oder andere Geldstück in ihre Taschen steckten.
Zunächst wehrte sich ihr Stolz dagegen. Bis jetzt hatte sie immer noch ihren Lebensunterhalt selbst verdient. Sie brauchte keine Almosen, aber sie war bereits zu schwach, um sich mit aller Kraft dagegen aufzulehnen. Und wenn sie abends noch schnell durch den Lebensmittelladen schlurfte, da suchten ihre Hände krampfhaft in den Schürzentaschen und scharrten das restliche Geld zusammen. Meist reichte es jedoch nur für zwei, drei Flaschen billigen Rotwein und "Träumchen" ging für einige Stunden auf Reisen.
Als die Geschäfte noch schlechter gingen, ertappte sie sich dabei, dass sie abends in der Fußgängerzone stand und ihre Hand aufhielt.
Die Menschen strömten in ihrer sinnlosen Geschäftigkeit an ihr vorüber, nahmen einfach keine Notiz von ihr, so, als ob es sie nicht gäbe. Manche, die gerade nichts besseres zu tun hatten, hielten an und lauschten ihren bissigen Bemerkungen, schüttelten den Kopf oder schauten einfach angewidert wieder weg. Und mancher, dem sein Gewissen dazu riet, kaufte sich durch ein Geldstück, das er fast achtlos in ihre Hand legte, wieder frei.
Hier stand sie nun, wie ein Fels am unrechten Ort. Hier, wo das Leben unaufhörlich pulsierte. Wo die Heiterkeit und die Sorglosigkeit und die Herzlosigkeit ihren Stammplatz hatten. Wo die Vertreter der Spassgesellschaft ihre Runden drehten. Hier verlor sie für den Hauch einer Sternschnuppe ihre Einsamkeit; obwohl sie innerlich, bis in alle Fasern ihres Seins, selbst zu jeder Minute mehr und mehr zu spüren bekam, wie abseits sie stand, wie weit weg ihre Wege von den ausgetreten Pfaden der übrigen Vorüberziehenden waren.
Dennoch sie bildete sich ein, dass hier, gerade hier, jeder Tag ihr Tag sei. Hier war ihr Platz, den wollte sie sich nicht auch noch streitig machen lassen. Wo sollte sie sonst noch hingehen? Hier war ihr Platz. Ein Platz für Träumchen.
So kam es, dass sie nach einiger Zeit bereits zum Straßenbild gehörte. Sie war Bestandteil dieses Gewirrs aus Menschen und Häusern, aus Hektik und Verachtung. Jeden Morgen saß sie hier. Jeden Morgen bettelte sie. Jeden Morgen nahm sie sich vor, nicht mehr zu kommen.
Für die vorbeihuschenden Menschen war sie ein Ärgernis. Es war nicht schön, jeden Morgen mit dem Hinweis konfrontiert zu werden, dass es noch Armut und Elend gab. Sie sahen es nicht gerne. Ja sie rümpften die Nase und schauten bewusst, ja zwanghaft, weg. Sollte sie doch arbeiten gehen. Sollte sie doch ihr Schicksal in die Hände nehmen, Eigeninitiative entwickeln, etwas unternehmen und nicht einfach auf das Mitleid der anderen hoffen. Aber so sehr sie sich auch wehrten, irgendwo im Innersten hatten sich die Gefühle vergraben, die ihre Hilflosigkeit wahrnahmen und sie einfach zweifeln ließen. Es half nichts. Sie spürten ihr Elend bis in die Fingerspitzen und wenn sie auch versuchten, diese unguten Gefühle aus ihren Gehirnen herauszureißen. Sie hatten sich unauslöschlich eingenistet. Sie hafteten fest in den Windungen der Zeit und erinnerten sich an die Melodie der Stürme und des Nichts und des Schweigens und des Leidens.
Jeden Morgen das gleiche Bild, die gleichen Gedanken, die gleichen Rechtfertigungen.
So saß Rosie Bertram auch heute wieder an ihrem gewohnten Platz, zusammengekauert, in dreckige Kleider gehüllt. Den Blick regungslos auf die vorbeieilenden Menschen gerichtet. Die bereitstehende Zigarrenschachtel war noch leer. Träumchen fühlte sich elend. Ihre Augen, die ihr in der letzten Zeit immer schon Schwierigkeiten bereiteten, schmerzten heute besonders. Meist hielt sie sie deshalb geschlossen und man schien zu glauben, dass sie endlos und ziellos in die Ferne horchte. Ihre Hände wirkten steif und waren noch nicht einmal mehr in der Lage, die herumstreunenden Hunde abzuwehren. Bleierne Müdigkeit umklammerte sie. Ihr Versuch, sich krampfhaft wachzuhalten, gelang nicht. "Nur nicht einschlafen -
So gab sie sich fast genüsslich dieser süßen Dämmerung hin, die ihr Ruhe brachte, die sie ihr ganzes Elend vergessen ließ. Hier würde sie bleiben. Niemand sollte sie mehr herumschubsen. Hier war ihr Zuhause. Und es stellte sich eine gewisse fast ungläubige Zufriedenheit ein. Ihr Herz ging flach und ruhig, bis dann urplötzlich einige kräftige und langgezogene Atemstöße ihren ausgemergelten Körper erschütterten, so, als ob er sich von allen Zwängen befreien wollte. Selbst dieses Aufbäumen geschah willenlos und der geschundene Körper sackte im nächsten Moment wie ein Kartenhaus in sich zusammen, so, als ob es diesen letzten Aufschrei nie gegeben hätte.
Als wenig später zwei kleine Jungen vor ihr standen und, da sie keine Regung des Körpers mehr verspürten, die leblos wirkende Alte mit ihren Fußspitzen berührten, war Ruhe eingekehrt. Und die Jungens, die trotz ihrer Tritte, keine Reaktion merkten, traten nun noch etwas kräftiger zu. Als sie immer noch keine Reflexbewegung der Alten spürten, bekamen sie es mit der Angst zu tun, und sie zuckten zurück und riefen entsetzt, "die ist ja tot". Und alsbald sammelte sich eine gaffende Menschenmenge, die aufgeschreckt aus ihrer Monotonie, nun das Ende der Bettlerin miterleben wollte. Die Plötzlich Zeit hatte, näher hinzusehen und dennoch nicht mehr als ein Achselzucken aufbrachte.
Und als am nächsten Morgen erneut der Strom von Menschen die gleiche Stelle passierte, fühlten sie irgendwo im Innersten, dass etwas fehlte, aber sie stürzten sich in die Hektik und hatten keine Lust mehr, weiter darüber nachzudenken und nur die in alter Gewohnheit hingeworfenen Geldstücke , die die Straßenfeger später aufsammelten, sangen auf dem harten Asphalt ihr "Lied für Rosie"